AI, der nächste Mozart?

Seit jeher geht von den unfertigen Werken alter Meister der Musik eine besondere Aura aus. Die nicht fertig gestellten Sinfonien von Komponisten wie Beethoven, Schubert oder Mahler, oft nur bedeutungsschwer als deren „Unvollendete“ bezeichnet, üben Anziehungskraft aus. Wahrscheinlich, weil damit die Hoffnung einhergeht, ein offengelegtes Getriebe vor sich zu haben. Eines, das besondere Einblicke in die Funktionsweise eines - um den Geniebegriff nicht noch weiter zu verschleißen - klugen Kopfes erlaubt, noch bevor dieser Gelegenheit hatte, sein Werk zu vollenden und damit zu versiegeln. Damit einher geht oft die Faszination am Grund des Abbruchs. „Über dieser Fuge, wo der Nahme B.A.C.H. im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben“, schrieb Johann Sebastian Bachs Sohn, Carl Philipp Emanuel, unter das unvollendete, väterliche Manuskript des finalen Stückes in „Die Kunst der Fuge“. Mehr Bedeutungsschwere geht kaum.

Myriaden an Komponisten, Musikwissenschaftlern, Musiktheoretikern und Dirigenten haben sich seither daran versucht, die Skizzen, Ideen und unfertigen Werke vergangener Größen der Musik fertigzustellen oder überhaupt erst zu schreiben. Am gewagtesten sind Versuche, den veränderten Personalstil eines Komponisten, hätte er länger gelebt, zu antizipieren. Eine solche Stilkopie zu schreiben ist schwierig. Nicht nur erfordert es ein genuines Einfühlen in die Denkweise des Komponisten, den man kopieren möchte. Es bedarf darüber hinaus einer Analyse bis in die kleinsten Makrobestandteile von dessen Werken, um Fragen zu klären, die sich erst beim Akt des Anfertigens einer solchen Stilkopie stellen. Und wenn diese fertiggestellt ist, bleibt trotzdem Ungewissheit: Was könnte man übersehen haben? Was hätte Beethoven anders gemacht? Nachträgliche Legitimation ist oftmals schwierig bis unmöglich. Und hier kommt, neuerdings, künstliche Intelligenz ins Spiel.

Stand der Technik

Die Idee, AI den Stil eines Komponisten kennen lernen und reproduzieren zu lassen, wird bereits seit einigen Jahren - mit wechselndem Erfolg - in die Praxis übertragen. Gelegentlich verstellt dabei der Gebrauch von „AI“ als Buzzword den Blick auf den eigentlichen, überschaubaren Gehalt. Huawei ließ sein Smartphone mittels dessen Neural Processing Unit vor einigen Jahren neue Melodien im Stile Franz Schuberts generieren. Ein Komponist traf daraus eine Auswahl und fertigte die übrigen Sätze der „Unvollendeten“ an - Konzert in der London Cadogan Hall und großes Werbeaufgebot inklusive. Eine KI vollendet die Unvollendete.

Interessanter scheint da ein Projekt vergangenen Jahres, bei dem ein Team an Data Scientists, Musikwissenschaftlern und Komponisten unter Zuhilfenahme von maschinellem Lernen Beethovens 10. Sinfonie anhand dessen Skizzenblättern vervollständigte. Die verwendeten Modelle ähnelten dabei stark jenen, welche im Bereich des NLP (Natural Language Processing) verwendet werden. Um solche zu trainieren, werden große Datenmengen benötigt. Dies offenbart die Schwierigkeiten in Bezug auf Stilkopien: Beethoven hinterließ lediglich 9 vollständige Sinfonien - zu wenig für Machine-Learning-Modelle. Selbst, wenn man Beethovens Gesamtwerk heranzöge, wäre das vermutlich zu wenig. Das Team musste deshalb zum Trainieren seiner Modelle auf die Musik der Zeit zurückgreifen, welche Beethoven wahrscheinlich gehört hatte. Dass man am Ende doch eine maßgeblich menschliche Komponente wirken ließ, indem man die KI nur als Hilfsmittel und nicht als Hauptakteur einsetzte, spricht für die Reflektiertheit der Herangehensweise. Es zeigt aber auch offen die Limitierungen gegenwärtig verfügbarer Ansätze auf.

Ein ähnlicher Verbund von Mensch und Maschine kam bei einem Projekt des Pharmakonzerns Pfizer zum Tragen. Dabei stand die interessante Frage im Raum, wie Mozart im hohen Alter komponiert hätte, wäre er nicht mit 35 Jahren gestorben. Den österreichische Komponisten Kurt Schmid ließ man Vorschläge, generiert mithilfe von Googles „Open AI“, in fertige Sinfonien setzen. Bis eine KI vollkommen selbstständig ein komplexeres, klassisches Werk komponieren kann, das auch überzeugt, wird es voraussichtlich noch eine Weile dauern.

Sehr verschiedenartige Ansätze unternimmt ACIDS (Artificial Creative Intelligence and Data Science) am IRCAM in Paris. Eines der interessantesten Projekte, das dort verfolgt wurde, ist das „Orchestral Piano“. Dort wurde mithilfe Neuronaler Netze ein Algorithmus mit Daten von Klaviernoten und deren Orchestrierung durch berühmte Komponisten trainiert. Mithilfe des Codes kann eine ihm übergebene Midi-Datei nun automatisch orchestriert werden. Der schwierige Schritt des Orchestrierens wurde bei den oben genannten Projekten hingegen noch von menschlicher Hand übernommen. Im Rahmen eines weiteren Projektes, dem ACTOR-Partnership, tritt man an die anspruchsvolle Aufgabe heran, Orchestrierung ganzheitlich von einem mathematisch-informatischen-akustischen Standpunkt heraus zu beschreiben.

In kleinen Schritten

Vollständige Sinfonien in einem bestimmten Personalstil so zu schreiben, dass auch Experten diese nicht mehr vom Original unterscheiden können, ist eine schwierige Aufgabe. Mit genug Talent ist man zwar schnell an einem Punkt, an dem etwas an der Oberfläche auch in den Ohren von Profimusikern „wie Schubert“ klingt. Doch wie belastbar ist dasselbe, legt man es einem Experten für den jeweiligen Komponisten vor? Und kann man damit eine KI täuschen?

Vor einigen Jahren habe ich mich an den Versuch gemacht, eine Haydnsonate zu schreiben und zu analysieren. Der erste Schritt war, möglichst viel von Joseph Haydn zu spielen, zu memorieren und analysieren. Zu glauben, alles nötige zu wissen, nur um sich dann beim Ansetzen des Stiftes im ersten Takt zu fragen: Wie typisch ist für Haydn ein Anfang mit einem vollen Akkord oder einer Einzelnote? Kommt eines von beiden vielleicht typischerweise in Dur- oder Mollkontexten vor? Und gibt es hierbei eine Korrelation mit hohen und tiefen Lagen am Klavier, und davon wiederum eine Korrelation mit kurzen oder langen Themenköpfen, und… .

Voller Akkord oder Einzelnote?

Es braucht nicht viel Erklärung, warum jeder dieser Fragen mittels manueller Partiturlektüre nachzugehen einem Menschen unmöglich ist. Und es braucht nicht viel Phantasie, um das Potential von Data Science und Machine Learning zu sehen, genau solchen Fragen nachgehen zu können. KI-gestützte Stilkopien bieten erstmals die Möglichkeit, in Detailtiefen vorzustoßen und Bezüge auf der Makroebene eines Werkes erkennen zu helfen, die selbst den versiertesten Experten bis dato verschlossen waren. Die hyperdimensionale, multivariate Abhängigkeit verschiedener Werkmerkmale voneinander zu erkennen und verstehen lernen, die in ihrer Summe den ureigenen Personalstil eines Komponisten formen - all das kann Data Science leisten.

1740er Jahre

Viel spricht für ein gegenseitiges Ergänzen, gerade wenn es um das Erkennen und Zuordnen von Partiturfragmenten ungeklärter Urheberschaft geht. Ein Data Science-gestützter Zugang bietet die Möglichkeit, anhand von statistischen Auffälligkeiten Aussagen zu treffen, die einem Menschen verborgen bleiben. Aufzuzeigen, welche auffälligen Korrelationswerte zwischen Register, Tonalität, Dynamik, harmonischem Rhythmus u.a. in einem bestimmten Formteil einer Werkgattung eines Komponisten bestehen - das vermag nur datengestützte Analyse. Während das menschliche Auge und Ohr eine Zuordnung über die eigene Hörerfahrung anstellt, das Klangerlebnis einem bestimmten Urheber zuordnet, kann Data Science diese Zuordnung über numerische Werte anstellen. Ein Mensch mag eine Aussage treffen, dass ein bestimmtes Stück „eher nicht“ nach Komponist XY klingt. In einigen Fällen mag er dies theoretisch begründen können. „Die Melodieführung an dieser Stelle ist viel zu expressiv und wenig nüchtern“ ist eine musiktheoretisch legitime Aussage. Bei anderen Gelegenheiten mag keine rationale Begründung möglich sein - obwohl die gefühlte Wahrheit (vielleicht sogar für jedermann nachvollziehbar) bleibt. Ein datenbasierter Ansatz wird solche Feststellungen nicht treffen können. Stattdessen könnte er aufdecken, dass die Korrelation der Anzahl an Septakkorden zur Länge eines bestimmten Formteils und dem Ambitus an dessen Ende mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit gegen XY als Urheber spricht. Dinge, nach welchen kein Mensch Musik analysiert. Eine KI mag sich nun daran machen, in einem bestimmten Personalstil zu komponieren, und hat vielleicht all diese Parameter und Korrelationen richtig umgesetzt - am Ende kann die versuchte Fragmentfertigstellung trotzdem untypisch für einen bestimmten Urheber klingen. Umgekehrt kann ein menschlicher Versuch in den Ohren auch von einer Hundertschaft an versierten Experten „wie das Original“ klingen - eine KI mag er damit trotzdem nicht täuschen können. Und wenn wir die KI wieder als Komponist einsetzen: Die lernt, aus der Gesamtheit eines Werkkorpus die typischen Verhaltensweisen eines Komponisten zu extrahieren. Doch gibt es in dessen Opus zahllose Stellen, die in ihrer einzigartigen Beschaffenheit singulär sind. Einzelne Momente, in welchen ein Komponist etwas auch für ihn atypisches tut; etwas, dass in seinem Gesamtschaffen nur an dieser einen Stelle passiert. Machine Learning, das gerade das Typische und Generische zu erfassen versucht, steht dem diametral gegenüber. All das verdeutlicht, warum uns wohl auch bei der nächsten großen KI-gestützten Fertigstellung einer „Unvollendeten“ das Tandem Mensch-Maschine erhalten bleiben wird. Entzaubern wird das die Faszination an der KI als Künstler wohl auf Dauer trotzdem nicht. „KI vollendet…“ wird auch künftig der Themenkopf entsprechender Schlagzeilen sein.

Die große Frage: Warum eigentlich?

Schließlich wirkt auch die Magie des über dem Manuskript der „Kunst der Fuge“ verstorbenen Bachs unablässig nach. Mittlerweile weiß die Forschung, dass die darin enthaltene Schlussfuge mitnichten Bachs letztes Werk war. Noch danach war er mit verschiedenen Projekten wie der H-Moll-Messe und den 18 Leipziger Chorälen zugegen, und die Kunst der Fuge, deren erste Fassung ja schon aus den frühen 1740er Jahren stammt, war zu diesem Zeitpunkt schon länger liegengeblieben. Doch Fakten tun der Magie einer ausreichend großen Erzählung in der Regel keinen Abbruch.

So ist es auch mit KI-Vervollständigungen. Sie erwecken nicht den Anschein von Kreativität (was ja auch nicht ihr Zweck sein sollte). Schlagzeilen, die jubeln, „KI ist der nächste Mozart“ , sagen eher etwas über die menschliche Faszination am Thema aus als über den tatsächlichen Vorgang. Und die wichtigste Frage ist ja: Was machen wir mit einer KI-generierten 10. Beethovensinfonie? Selbst, wenn diese sowohl im menschlichen Ohr als auch im Brennglas der datengestützten Analyse eines Tages perfekt sein sollte, wäre es vermessen, zu behaupten, Beethoven hätte sie genau so komponiert. Und ist es für uns im Augenblick des Hörens nicht vollkommen irrelevant, ob die Musik nun von einem Menschen, einer KI oder beiden im Verbund komponiert wurde? Bleibt die einzige Faszination tatsächlich in der dialektischen Maßnahme, dem Hörer zu sagen, dass eine KI beteiligt war? Ist das genug, damit etwas wichtig, damit etwas außergewöhnlich ist? Irgendwann wird KI so alltäglich wahrnehmbar sein, dass die Euphorie darum abflaut. Was dann?

Vielleicht lässt sich die Frage damit beantworten, dass man es tut, weil man es nun einmal kann. Weil man neugierig ist. Ausprobieren will. Das mag als Begründung brüchig erscheinen, aber hinter für echten Forschertrieb ist das eine ausreichende und legitime Motivation. Wenn KI eines der großen Themen unserer Zeit ist, wenn sie es schafft, als Buzzword Menschen zu elektrisieren, zu Fragen anzuregen, Diskussionen zu inspirieren, dann ist eine KI, die Mozart imitiert und dabei immer besser wird, einfach nur ein weiteres Kind ihrer Zeit. Etwas, das unseren Kunstbegriff herausfordert. Uns Anlass gibt, weiter über die Bedeutung von Kreativität, Ästhetik, Originalität nachzudenken. Und wenn sie das schafft - dann hat sie ihren Platz auch in der Musik wohl allemal verdient.

Quellen:

  • https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/sieben-unvollendete-musikalische-werke-100.html

  • https://liveinnovation.org/ai-is-the-new-mozart-welcome-to-a-world-of-infinite-music/

  • https://www.theweek.in/leisure/society/2021/10/22/how-ai-helped-a-team-of-scientists-complete-beethoven- 1 unfinished-10th-symphony.html

  • https://marketresearchtelecast.com/making-of-how-an-ai-completed-beethovens-10th-symphony/181502/

  • https://www.letsdissect.com/work/mozarts-lost-symphonies 3 https://acids.ircam.fr/course/how-to-become-a-good-founder-6/

  • https://acids.ircam.fr/course/how-to-become-a-good-founder-7/

  • https://www.actorproject.org/working-groups/ai

Kevin Lang

Student im Studiengang Data Science & Business Analytics an der FH St. Pölten